Sonntag, 17. August 2008

Krankenhaus2005.

Was davon geblieben ist:
1. die Erinnerung, wie es war, nach langer Zeit endlich wieder Luft holen zu können
2. das Gefühl, anschließend ins Bodenlose fallengelassen zu werden
3. Frau Spieß

Frau Spieß ist eine Person, die ich im richtigen Leben einfach übersehen würde. Sie ist unscheinbar, zurückhaltend und leise. Aber zusammen in einem Krankenzimmer redeten wir miteinander. Wir redeten und redeten und redeten. Was soll man in einem Krankenhaus auch anderes tun. Unseren gesamten Aufenthalt über pflegte sie alle zwei Tage zu fragen: "Wieso bist du nochmal hier?" Sie hat es nie richtig verstanden, aber das macht nichts.

Frau Spieß kommt aus einer anderen Welt. Aus einer Welt in der man Bildzeitung liest und zum Arzt geht, wenn man körperliche Schmerzen hat. Aus einer Welt, in der man Falttüren praktisch findet und apricotfarbenen Teppich zur dunklen Schrankwand schick. In einer Welt, in der man mit Maggi Fix kocht und Stoffbeutel aus dem Supermarkt als Handtaschenersatz akzeptabel findet. Sie wurde von ihrem Hausarzt ins Krankenhaus überwiesen. Anpassungsstörung. Reaktion auf den Tod ihres Mannes. Ein anderes Leben, eine andere Welt.

Die Zeit im Krankenhaus ist lange vorbei, aber Frau Spieß ist in meinem Leben hängen geblieben. Was Freundschaften angeht, gehören wir beide zum langjährigen Typ. Nun ist sie so eine Art ältere Freundin geworden. Wir telefonieren einmal im Monat um uns zu verabreden. Dann gehen wir zusammen ins Kino, Essen, Spazieren oder zum Grab ihres Mannes. Ich mag diese Treffen, diese Einblicke in eine fremde Welt. Und ich glaube, sie mag mich. Mich und meine Fragen, die sie dazu bringen, ihre eigene Welt mit anderen Augen zu betrachten. Darüber nachzudenken, warum sie etwas in ihrem Leben auf diese oder jene Weise getan oder entschieden hat. Wie die Zeit mit ihrem Mann war. Verliebt sein, Heirat, Hausbau, Kind, Krankheit, Tod. Und dann natürlich der Ist-Zustand. Was ist eigentlich Zufriedenheit und was bedeutet Glück?

Als ich Frau Spieß anrufe, sagt sie nur: "Setz dich hin." Und während ich mich auf mein Bett fallen lasse, erzählt sie mir vom Knoten in der Brust, von den Untersuchungen, von der OP und dass sie heute erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde. "Ich komme vorbei", sage ich knapp und spüre, wie mir beim Aufstehen die Knie weich werden. Ich packe Obst, DVD's, Bücher ein und gehe zum Bäcker um Kuchen zu holen. Alles will ich ihr mitbringen, am besten aber Hoffnung. Leider kann ich keine finden.

Sie sieht gut und gesund aus, wie sie da sitzt, die Hände im Schoß gefaltet. "Es ist kein Todesurteil", sagt sie in diplomatischem Ton, aber dann reden wir trotzdem vom Sterben. "Ich habe mein Leben gelebt." In ihren Worten klingt etwas mit. Ein beiläufiges Da-kommt-nichts-mehr. In ihren Augen sehe ich, dass sie daran glaubt. Ich spüre die Ohnmacht meines Schmerzes. Ich will es nicht hören. "60 Jahre sind eine lange Zeit", fährt sie fort. Das hat auch meine Mutter über das Sterben gesagt. Das Gespräch wird hastiger, wir drehen uns im Kreis und unsere Sätze trudeln ziellos umeinander, ohne den anderen zu erreichen. Dann steht Frau Spieß auf. "Erstmal eine rauchen", sagt sie und öffnet die Balkontür.

Ich werde ruhiger und zwinge mich dazu, langsam zu atmen. "In meiner Umgebung wird zu viel und zu leichtfertig gestorben", sage ich laut, obwohl ich es nur denken wollte. Sie lacht und guckt mich mit diesem Kinky-ist-ein-Alien-Blick an. "Hauptsache es geht schnell." Dann erklärt sie mir, wie sie keinesfalls sterben will. Von Maschinen am Leben erhalten, ein Pflegefall sein, künstlich ernährt werden, nicht mehr laufen können. Ich muss sie bremsen, weil ihre Phantasie zu weit geht. Weil irgendwann jede körperliche Einschränkung ausreicht, um das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen zu lassen. Das Thema wühlt uns beide so sehr auf, dass wir schweigen müssen.

"Was ist eigentlich mit unserer Fahrt an die Ostsee?", will sie plötzlich wissen. Und wir sind beide erleichtert, das Thema wechseln zu können. Gemeinsam in die Sonne blinzeln und die Zukunft gestalten. Es ist Zeit zu Leben.