Freitag, 19. Dezember 2008



Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahre.
(Immanuel Kant)

Der Philosoph verringert unsere Distanz in kleinen, wohldosierten Schritten. Je mehr er von sich preisgibt, je mehr er mich hinter die Fassade schauen lässt, je mehr wir reden, diskutieren und streiten, desto begehrenswerter wird er. Seine Schwächen sind seine Stärken. Jeder Makel macht ihn in meinen Augen noch attraktiver, besonderer, interessanter. Je mehr Zeit vergeht, je mehr wir uns im Kopfkino verstricken, desto fordernder und anstrengender wird er, desto offener und anhänglicher werde ich. Alles dreht sich um ihn. Ich drehe mich um ihn. Und ich will mehr und mehr, will Nähe und Härte, will von ihm lernen, ihm den Kopf verdrehen, mit ihm in eine Welt eintauchen, in der wir uns verlieren und wieder zueinander finden. Gemeinsam Grenzen und Grenzenlosigkeit erkunden. Die Welt, in der das Tier, welches normalerweise hinter Schloß und Riegel eingesperrt wird, für einen Moment Freigang bekommt und in wilder und unberechenbarer Raserei hervorbricht. Eine Reise in beängstigende Abgründe, in erregende Abgründe, mit einer Anziehungskraft, die mich manchmal fragen lässt, ob ich nicht schon längst zu weit gegangen bin. Ein Trip, häufig genug entlang der Grenzen des guten Geschmacks.

"Es gibt Dinge im Leben", sagt er, "die man sich verbieten muss, weil man sonst nicht mehr in den Spiegel schauen kann". Ich verstehe was er meint, stimme ihm zu und wir schweigen einen langen Moment, weil Worte manchmal so stark sind, dass man ihnen Raum geben muss, um sie zu verdauen. Sein moralisches Handeln, seine Konsequenz, seine Loyalität, seine Vernunft, sein Pflichtgefühl bilden ein stabiles Gerüst für sein Leben. Er weiß genau was er will und auf was er verzichtet. Er hat sich entschieden. Er lebt mit den Konsequenzen, auch wenn sie zeitweise zu körperlichen und seelischen Schmerzen führen, aber er bekommt dafür etwas, was Wichtiger ist, als alles andere.

Es ist meine Sehnsucht und meine Gier nach Leben, nach Liebe, nach Nähe, nach Symbiose, die diesen heftigen Herzschmerz verursacht. Das Wissen, ihn nicht haben zu können. Nicht einmal die Möglichkeit zu haben, um ihn kämpfen zu können. Dieser Zustand schlägt sich mit der Zeit auf meine Stimmung nieder, die Nächte werden immer kürzer, meine Augen röter und die Augenringe dunkler und tiefer. Unsere Auseinandersetzungen verlieren ihren locker-leichten Charakter, weil die Angst vor dem Ende unermesslich wird. Unsere Gespräche sind so ehrlich, dass es weh tut. So offen, dass ich mir nackt und schutzlos vorkomme. Aber er hüllt mich mit seinen Worten ein und führt mich langsam an den Punkt, an dem ich Abschied nehmen kann. Er redet meine Tränen weg, mein Weinen, mein Schluchzen, mit guten und sanften Worten, denn er weiß, dass Logik und Vernunft bei mir auf fruchtbaren Boden fallen.

Ich lasse ihn gehen. Mein Herz, mein Kopf, meine Mailbox, mein Handyspeicher sind voll von ihm. Ich wusste von Anfang an, dass es so kommen wird und kann es trotzdem schlecht ertragen. Was bleibt, ist kostbar. Erinnerungen an ein paar Wochen pures Gefühlslimit. Die Bekanntschaft mit einem großartigen Menschen, der sein Ding durchgezogen hat, unerbittlich, bis zur ultimativen Schmerzgrenze. Die Begegnung mit mir selbst. Die Einsicht, dass man mich mit Offenheit, Ehrlichkeit und einer Menge gutem Zureden, zu ziemlich allem kriegt.

Auf Wiedersehen, Philosoph. Hab Dank und lebe wohl.