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Sonntag, 21. Dezember 2008
"Hallo, mein kleines Schätzchen." So begrüßt mich mein Vater am Telefon. Jedes Mal. Es ist schön, dass er mich immer noch so nennt, auch wenn ich längst zu einem großen Schatz herangewachsen bin.
Er redet ein bisschen über das gestrige Familientreffen, von seinem schlechten Gesundheitszustand und dass er der kleinen Miss nicht beim Weihnachtssingen zuhören konnte, weil alles anders lief als geplant. Es sind noch fünf Tage bis Heiligabend und bisher haben wir es beide vermieden, das Thema anzuschneiden, das für uns so schwer zu besprechen ist. Ich habe mich entschieden, in diesem Jahr dem Familienzirkus zu entgehen, mit dem Vorsatz, eine Begegnung mit der Frau zu vermeiden. Sie ist es, die jedes gemeinsame Beisammensein durch ihre Launen bestimmt und der es oft genug gelingt, die Stimmung aller Anwesenden komplett zu ruinieren, auch wenn wir anderen hartnäckig mit unseren Sonnenscheingemütern dagegenhalten.
Der eigentliche Plan war, meinem Vater diese Entscheidung mitzuteilen. Aber stattdessen frage ich lahm und durch die Philosophengeschichte reichlich mitgenommen: "Und was ist mit Weihnachten?" Erstmal sagt er nicht viel, schlingert unsicher herum, um sich langsam vorzutasten, bis es schließlich heraus ist. "Du kannst Weihnachten nicht kommen." Es von ihm zu hören, hinterläßt ein anderes Gefühl, als wenn ich die Entscheidung selbst mitgeteilt hätte. Es tut weh. Aber wenigstens ist es heraus und er kann nicht einfach so tun, als wäre alles in Ordnung. Wir spüren beide, dass es die Sache auf die Spitze treibt, dass es schonungslos die krankhafte Beziehung der beiden offenlegt.
Ach Papa. Wie gerne würde ich dir ein wenig von meiner Stärke und Konsequenz abgeben, damit du endlich den Schritt machen kannst, dieses Desaster zu beenden.
Freitag, 19. Dezember 2008
Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin, dass der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person bewahre.
(Immanuel Kant)
Der Philosoph verringert unsere Distanz in kleinen, wohldosierten Schritten. Je mehr er von sich preisgibt, je mehr er mich hinter die Fassade schauen lässt, je mehr wir reden, diskutieren und streiten, desto begehrenswerter wird er. Seine Schwächen sind seine Stärken. Jeder Makel macht ihn in meinen Augen noch attraktiver, besonderer, interessanter. Je mehr Zeit vergeht, je mehr wir uns im Kopfkino verstricken, desto fordernder und anstrengender wird er, desto offener und anhänglicher werde ich. Alles dreht sich um ihn. Ich drehe mich um ihn. Und ich will mehr und mehr, will Nähe und Härte, will von ihm lernen, ihm den Kopf verdrehen, mit ihm in eine Welt eintauchen, in der wir uns verlieren und wieder zueinander finden. Gemeinsam Grenzen und Grenzenlosigkeit erkunden. Die Welt, in der das Tier, welches normalerweise hinter Schloß und Riegel eingesperrt wird, für einen Moment Freigang bekommt und in wilder und unberechenbarer Raserei hervorbricht. Eine Reise in beängstigende Abgründe, in erregende Abgründe, mit einer Anziehungskraft, die mich manchmal fragen lässt, ob ich nicht schon längst zu weit gegangen bin. Ein Trip, häufig genug entlang der Grenzen des guten Geschmacks.
"Es gibt Dinge im Leben", sagt er, "die man sich verbieten muss, weil man sonst nicht mehr in den Spiegel schauen kann". Ich verstehe was er meint, stimme ihm zu und wir schweigen einen langen Moment, weil Worte manchmal so stark sind, dass man ihnen Raum geben muss, um sie zu verdauen. Sein moralisches Handeln, seine Konsequenz, seine Loyalität, seine Vernunft, sein Pflichtgefühl bilden ein stabiles Gerüst für sein Leben. Er weiß genau was er will und auf was er verzichtet. Er hat sich entschieden. Er lebt mit den Konsequenzen, auch wenn sie zeitweise zu körperlichen und seelischen Schmerzen führen, aber er bekommt dafür etwas, was Wichtiger ist, als alles andere.
Es ist meine Sehnsucht und meine Gier nach Leben, nach Liebe, nach Nähe, nach Symbiose, die diesen heftigen Herzschmerz verursacht. Das Wissen, ihn nicht haben zu können. Nicht einmal die Möglichkeit zu haben, um ihn kämpfen zu können. Dieser Zustand schlägt sich mit der Zeit auf meine Stimmung nieder, die Nächte werden immer kürzer, meine Augen röter und die Augenringe dunkler und tiefer. Unsere Auseinandersetzungen verlieren ihren locker-leichten Charakter, weil die Angst vor dem Ende unermesslich wird. Unsere Gespräche sind so ehrlich, dass es weh tut. So offen, dass ich mir nackt und schutzlos vorkomme. Aber er hüllt mich mit seinen Worten ein und führt mich langsam an den Punkt, an dem ich Abschied nehmen kann. Er redet meine Tränen weg, mein Weinen, mein Schluchzen, mit guten und sanften Worten, denn er weiß, dass Logik und Vernunft bei mir auf fruchtbaren Boden fallen.
Ich lasse ihn gehen. Mein Herz, mein Kopf, meine Mailbox, mein Handyspeicher sind voll von ihm. Ich wusste von Anfang an, dass es so kommen wird und kann es trotzdem schlecht ertragen. Was bleibt, ist kostbar. Erinnerungen an ein paar Wochen pures Gefühlslimit. Die Bekanntschaft mit einem großartigen Menschen, der sein Ding durchgezogen hat, unerbittlich, bis zur ultimativen Schmerzgrenze. Die Begegnung mit mir selbst. Die Einsicht, dass man mich mit Offenheit, Ehrlichkeit und einer Menge gutem Zureden, zu ziemlich allem kriegt.
Auf Wiedersehen, Philosoph. Hab Dank und lebe wohl.
Mittwoch, 17. Dezember 2008
Passend zum Abendessen kommt das Mistvieh auf eine Stippvisite vorbei und will einfach nicht wieder verschwinden. Nach so langer Zeit. Nach so vielen Wochen. Fast war ich überzeugt, dass es für immer gegangen wäre. Als es jetzt unvermittelt auftaucht bin ich wie gelähmt, bin geschockt und unvorbereitet. Mein Wille ist schwach und der Kampf kurz, so überrumpelt bin ich in diesem Moment. Ich wähle den altbekannten Weg, den Weg des geringsten Widerstandes und am Ende leuchtet mir in großen Lettern das Wort V-E-R-L-O-R-E-N entgegen.
Am Morgen ist mir übel. Die Quittung dafür, dass ich das, was ich am Abend hätte spüren müssen, womit ich mich hätte auseinandersetzen müssen, einfach betäubt habe. Aber die Verlockung war mächtig, denn Schlechtsein und Versagen ist einfach und vertraut.
Ich wünsche mir, das elendige Gefühl loszuwerden. Will alles Schlechte in den Rinnstein kotzen: die Enttäuschung und Wut, den Ärger und den Hass, die Schwäche, die Leere und die Einsamkeit. Aber dazu ist es zu spät, denn das was herauskommen würde, wäre nur richtige Kotze und nicht das, was Erleichterung und Besserung schaffen würde.
Minuten später sitze ich in der U-Bahn und werde ohne Fahrkarte erwischt. Es ist der bekannte Tropfen, der in diesem unpassenden Moment die Tränen hervorlockt. Es sind viele, sehr viele, die mir geräuschlos über die Wangen laufen, während ich im diesigen Grau durch die Straßen zur Anstalt laufe. Im Hausflur angekommen wische ich mir das Gesicht ab und putze mir die Nase, sammle mich, schließe die Tür auf . Die Kolleginnen winken, grüßen und lachen. Aber dann sehen sie, dass etwas nicht stimmt, springen auf, wollen wissen was los ist. Ein Fehler, denn Mitgefühl ist der Feind der Verdrängung. Der Damm bricht. Sie tun mir so leid, weil sie mich ertragen müssen und ich tue mir leid, weil ich mich ebenfalls ertragen muss. Ich schweige über die Gründe. Wie immer.
"Erst dachte ich, es wäre jemand gestorben", sagt die eine Kollegin kopfschüttelnd, nachdem ich mich wieder beruhigt habe und ich lächele entschuldigend. Niemand außer der Hoffnung, denke ich theatralisch und spüre, wie die Vernunft mahnend den Finger erhebt, weil meine Gedanken so dumm sind und es langsam an der Zeit ist, sich wieder ernsthaft zusammenzureißen.
Montag, 15. Dezember 2008
Die angekündigte Sonntagsführung im Haus der Kulturen klingt spannend. Sie verspricht durch interaktive Wahrnehmungsübungen zu zeigen, wie dünn die Linie ist zwischen dem, was als "normales" Verhalten angesehen wird, und denen, die als schizophren, depressiv oder paranoid gelten. Ah ja, mal gucken.
Zu Beginn erzählt der (Ex?-)Depressive etwas über seinemeine Krankheit. Von seinem ersten Satz an merke ich, wie mich die Worte packen und auch wie schwer sie wiegen - in meinem Kopf und meinem Herzen. Ich hänge an seinen Lippen, obwohl ich all das Gesagte längst weiß. Vielleicht, weil ich bisher so wenig über diese Gefühle gesprochen habe. Damals, weil ich nicht konnte, heute, weil ich diese Zeit am liebsten ungeschehen machen würde. Und auch, weil mir die Erinnerung in schonungsloser Brutalität vor Augen führt, wie krank ich gewesen bin, wie hilflos, schwach, kraft- und mutlos. Ein Ich, das mir fremd und doch so vertraut ist. Ein Ich das nicht ich bin.
Die Übung. Ich sitze in einem Raum, umgeben von vollkommener Schwärze. Ich soll an all das denken, was ich in meinem Leben nicht geschafft habe, worin ich versagt habe. Kein Mann, kein Kind, kein Selbstbewußtsein im Job, deshalb auch zu wenig Geld, kein vorhandener Ehrgeiz, familiäre Konflikte. Die Schlagworte ziehen an mir vorbei wie ein innerer Film der sich abspult - ohne Stopptaste. Ich sitze zusammengesunken auf einem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, den Rücken nach vorn gebeugt mit hängenden Schultern. Dann füllt sich der Raum mit Musik, dunkel und heftig, und schon nach wenigen Takten laufen mir die Tränen über die Wangen, überwältigt mich dieses Gefühl der grenzenlosen Traurigkeit, der grenzenlosen Hoffnungslosigkeit, genau wie damals. Erschrocken richte ich mich auf, strecke die Schultern, stelle die Beine nebeneinander, verschränke die Hände vor der Brust und versuche zu grinsen und die Gedanken zu verscheuchen, denn alles ist gut, oder zumindest gut genug, um nicht in die Dunkelheit zurückzukehren.
Eingeholt, denke ich, als ich verschreckt wieder in die Helligkeit stolpere. Was für eine unerwartete Entführung in die Vergangenheit.
Sonntag, 14. Dezember 2008
Ich hab's ja nicht so mit dem ganzen Weihnachtskram. Normalerweise ist Mimi dafür zuständig, mich zum Plätzchen backen zu animieren, mich zu Einkäufen zu inspirieren, Tannengrün in die Wohnung zu bugsieren und mich mit einem Adventskalender zu beglücken. Selbstgebastelt natürlich. Aber weil dieses Jahr ziemlich verkorkst für sie war, lässt sie den kompletten Weihnachtskram ausfallen. Dumm für mich, denn irgendwie war der Mimische Einsatz nicht nur praktisch, sondern auch sehr schön.
Aber: Ich habe würdigen Ersatz gefunden, zumindest was den Kalender angeht. Mein hochgeschätzter Herr Knäckeboot bastelt nämlich schon seit Tagen wie wild an seinem Kalender herum und lässt alle anderen daran teilhaben.
Anleitung ist ganz einfach: Morgens reingucken & grinsen!
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