Montag, 14. April 2008

My heart will stop beating if I stay here.
This is an emergency! I don’t want to die!

(Elly Genthe)


Aufgeputscht, aber im Zeitlupentempo, bewege ich mich durch die bunte und schnelle Stadt und stille die Sehnsucht nach Leben. Anstatt Sauerstoff atme ich Kunst. Stunde um Stunde, mehr und mehr. Ich kann gar nicht genug bekommen. Das Schöne und Schmutzige gibt es dort im großzügigen Angebot, auch wenn manche Orte versteckt sind, durch Zufall entdeckt, weitab vom Touristenstrom, scheinen sie mir nur umso wertvoller zu sein. Mein eigenes Treiben am Tag macht mich süchtig und verdreht mir den Kopf und nachts huschen die Menschen aus Fotos und Bildern entsprungen durch meine Träume. Ich treibe mich an Orten herum, die ich noch bei Tageslicht mit schiefgelegtem Kopf in Ausstellungen betrachtet habe. Durcheinander.

Dann ist plötzlich alles anders. Es regnet zum ersten Mal seit meiner Ankunft, der Himmel ist mit dunklen Wolken verhangen und für einen Moment scheint die Welt sich einen Schabernack erlauben zu wollen und spielt Untergang. Life before death, lese ich auf einem Plakat bei meiner Flucht in die nächste U-Bahnstation, an exhibition about dying. Die Tagesplanung wird verworfen, weil ich diese Ausstellung sehen muss. Ich erwarte Porträts von Menschen, die bald sterben werden. Ich bekomme viel mehr.

Als ich den Raum betrete, sehe ich die ersten Bilder dort hängen, groß und intensiv in tiefem schwarz/weiß, paarweise aufgehängt. Ich trete näher, sehe, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, einmal lebendig, einmal tot. Langsam trete ich an das erste Bilderpaar heran und weiß nicht recht, was ich zuerst tun soll. Erst die Bilder ansehen und dann den Text lesen oder umgekehrt. Ich entscheide mich für die Bilder, sehe dann, dass auch die Daten der Fotoaufnahmen vermerkt sind. Zwischen beiden Aufnahmen liegt nur wenig Zeit. Manchmal ein paar Wochen, manchmal nur ein Tag.

Die Sterbenden blicken ernst. Selten huscht ein kaum wahrnehmbares Lächeln über ihre Züge. In diesen Momentaufnahmen sieht man mehr Leben als Tod, auch wenn er ganz nah ist. Im Tod sehen sie alle entspannt aus. Ruhig. Und beruhigend. Die Intimität dieser Bilder lässt mich schwer schlucken, aber es sind die Texte, die mich zum Weinen bringen. Wenige Worte, die das Leben beschreiben. Und das Sterben. Beides zusammen wird zu einer berührenden Komposition, die mich an die Grenze dessen bringt, was ich aushalten kann.

Ich muss einen Schritt zurückgehen und mich setzen. Durchatmen. Es sind nicht nur die Fremden, die bewegen, es sind auch die eigenen Erinnerungen, die mich überwältigen. Mein Kinderfreund, der mit 13 Jahren an Aids gestorben ist, der mich in Gedanken durch mein Leben begleitet. Meine Tante, die im Tod so friedlich aussah, trotzdem sie so ein verdammtes Scheißleben hinter sich hatte. Meine Oma, die in einem der Hospize gestorben ist, in denen die Fotos entstanden sind.

An etwas Schönes denken, um das Sterben zu ertragen. Aber meine Gedanken wollen mir nicht gehorchen und treiben mich durch einen einzigartigen Film, in dem Sterbende und Tote die Hauptrollen spielen. Emotionen im Überfluss. Ich bin so dankbar, dass es Menschen gibt, die mutig sind und etwas riskieren, Künstler und Porträtierte und Andere teilhaben lassen, an dem was sie schaffen.

Fotos: Walter Schels
Texte: Beate Lakotta

Fotografien und Texte: Life Before Death
Artikel über Schels und Lakotta aus The Guardian: This is the end