Montag, 2. März 2009
Die Lieblingstante war kein Wunschkind, im Gegenteil. Sie war das Kind ihrer Mutter und das Kind eines Anderen. Vielleicht war schon das Grund genug, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Heute scheint mir ihre Reaktion eine Art angepasster Auflehnung gegen ihre Eltern gewesen zu sein: die konsequente Selbstzerstörung, um sich unauffällig aus dem Leben zu schleichen.
Als Kind habe ich meine Tante vergöttert. Sie war für mich der Inbegriff von Herzenswärme. Das Gegenteil von meiner Mutter, von meiner Oma. Liebevoll, aufopfernd, herzlich, gütig und strahlend schön. "Komm", pflegte sie zu sagen, wenn ich für ein paar Tage nach Hamburg kam, "wir spielen Mutter und Tochter." Und ich gierte danach, an ihrer Hand über den Blankeneser Wochenmarkt zu laufen, wo sie unzählige Menschen kannte, wo jeder sie grüßte und sie immer wieder stolz verkündete: "Meine Tochter!" Dann kicherten wir vergnügt und zufrieden, während die Bekanntschaften gütig lächelten und nickten und sich wahrscheinlich ihren Teil dachten.
Aber ich merkte früh, dass diese Familie anders ist als meine eigen. Spießig. Patriarchalisch. Und irgendwie falsch. Aber wenn man klein ist, darf man ungestraft ausblenden und deshalb tat ich so, als wäre alles gut, alles besser, als in meinem eigenen Leben. Damit ich äußerlich zu ihnen passte, kaufte meine Tante Polohemden und stellte mich zwischen die beiden Jungs: dunkelblau - rosa - dunkelblau und für einen Moment konnte ich an eine richtige Familie glauben. Vater, Mutter, Kinder. Das, was ich meine Kindheit durch am sehnlichsten vermisste. Eine Familie, komplett, wie aus dem Bilderbuch.
Als ich größer wurde sah ich mit Befremden, wie die Hamburgfamilie heile Welt spielte. Die Fassade überzeugte alle Außenstehenden, aber innen drin gärte die Fäulnis. Am 50. Geburtstag meiner Tante, beschloss ihre Mutter!, ihr die Information, ein uneheliches Kind zu sein, am Telefon vor die Füße spucken zu müssen. Was folgte war schrecklich. Im Nachhinein wollte ich einfach nur glauben, dass es ein bisschen tröstlich für sie war, zu erfahren, dass der Mann, den sie Papa genannt, der sie misshandelt und missbraucht hat, nicht ihr leiblicher Vater gewesen ist. Dieser Mann, der nicht nur seine drei Kinder gequält, sondern auch viele andere Menschen auf dem Gewissen hat. Ein Mann, den keiner gerne zum Vater haben will. Aber vermutlich fiel dieses Wissen nicht mehr ins Gewicht, weil der Zeitpunkt viel zu spät war.
Der 29. Februar 2008 kam wie ein Donnerschlag daher und der Tod mit tosendem Gepolter. Als müsse wenigstens der Abschied laut und gewaltig sein, weil sie doch sonst immer so verdammt stillgehalten hat. Der brachiale und grausam Weg aus dem Leben hat alle erschüttert. Und doch will ich in meiner Fantasie glauben, dass sie diesen Nicht-Tag bewußt gewählt hat. Damit ihre Männer nicht jedes Jahr trauern müssen. Und ihre Wunschtochter auch nicht. Sie konnte doch niemanden weinen sehen.
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monolog,
Montag, 2. März 2009, 13:06
Wenn du daran glauben kannst, ist es wahr. Zumindest für dich, und in solchen Fällen zählt am Ende nur die eigene Wahrheit.
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kinky,
Montag, 2. März 2009, 18:29
Es ist ja eh kaum zu ertragen. So nimmt es einen klitzekleinen Teil der Schwere.
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glasfaser,
Montag, 2. März 2009, 15:09
Sie beschreiben eine Tragödie. Eine wirkliche. Und hinterlassen einen tiefen Eindruck....
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kinky,
Montag, 2. März 2009, 18:29
Meine Mutter sagt immer, wir könnten die Lindenstraße inspirieren.
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