Donnerstag, 23. Oktober 2008

Immer wieder sprechen mich meine Kollegen auf meine äußerliche Veränderung an. Was mir am Anfang des Jahres noch unangenehm war, kann ich mittlerweile mit einem gleichgültigen Nicken bejahen. Genau, ich sehe anders aus. Danke. Nächstes Thema. Aber es sind die, die mir nahe stehen, denen vor allem meine innerliche Veränderung ins Auge sticht und die keine großen Worte brauchen, um mir zu zeigen, dass sie sich mit mir darüber freuen.

Dieses andere-neue-alte Leben ist gut. Und bis vor kurzem fühlte es sich einfach nur fantastisch an. Aber jetzt kommt mit einem Mal die Erinnerung mit gewaltigem Wucht auf mich zu und droht, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Wie schmerzvoll die Gedanken an die Vergangenheit sind. Wie einsam die letzten Jahre waren. Wie vergeudet und überflüssig mein Leben. Erinnerungen, die ich am liebsten ungeschehen machen würde.

Die Frau aus L. ist guter Dinge. "Freuen Sie sich doch über das, was Sie geschafft haben", sagt sie lächelnd, während ich ungeduldig den Kopf schüttele. Ich habe das Gefühl, dass sie nichts von dem versteht, was ich ihr mitzuteilen versuche. "Darum geht es doch gar nicht", versuche ich es erneut und erkläre, mit welchem Schmerz diese Erinnerungen verbunden sind. Vielleicht ist es das Ausmaß und die lange Zeit, die ein Verstehen so schwer machen. Und die damit zusammenhängende Tragik, die es ihr unmöglich macht, meinen Zwiespalt nachzuvollziehen.

Es wird nicht wieder so weit kommen, versuche ich spät am Abend mein aufgebrachtes Inneres zu beruhigen. Du wirst auf dich aufpassen. Aber ich weiß, dass diese Worte trügerisch sind, denn sich selbst zu retten ist schwer. Dass es da draußen keine Hilfe gibt, ist wohl eine der schlimmsten Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machen musste. Schließlich kam die Heilung von dort, wo das ganze Übel begonnen hat. In mir drin - aus mir heraus.

"Es war dein Selbsterhaltungstrieb", sagt ein Freund und ich nicke zustimmend. Leider ist auf diesen Trieb kein Verlass, das habe ich in den letzten Jahren zur Genüge erfahren müssen. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich um eine Garantie bitten, dass ich nie wieder Schmerzen darüber empfinde, dass das Leben so ist wie es ist, nie wieder Schmerzen, weil ich so bin wie ich bin.


 

Mittwoch, 6. August 2008

Noch nie habe ich bei der Frau aus L. angerufen und gesagt: "Bitte 1 Termin für Zwischendurch." Kein Problem. Ich kann sogar wählen ob sofort oder später und schon sitze ich in ihrem lichtdurchfluteten Zimmer, während ein kühler Wind durch die weißen und flatterigen Vorhänge streicht und mein erhitztes Gesicht kühlt.

Sie tut mir schon leid, bevor ich überhaupt anfangen habe. Alles bekommt sie mit Wucht vor die Füße geworfen und ein paar Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Es ist ein großer Haufen Hoffnungslosigkeit und Verzweifelung. Sag was! Tu was! Erkläre mir die Welt! Rette mich! Ganz oben prangt das überdimensionale Fragezeichen, das bis in den Himmel reicht und ich blicke ins Leere und warte auf ein Ende.

Wir schweigen. Und dann beginnt sie von der Traurigkeit zu sprechen. Davon, wie ich mich immer zurückhalte, abwiegele, mit aller Kraft verdränge, was ausgesprochen werden muss. Und selbst dann, wenn all die Worte schon irgendwann einmal gesprochen wurden, muss es noch einmal raus und vielleicht auch noch ein zweites, drittes, viertes Mal. Trauern, damit irgendwann Ruhe einkehren kann. Weinen, damit irgendwann der Abstand ausreicht, um die Vergangenheit gelassener zu nehmen.

Ich versuche ihr zu erklären, dass es möglicherweise kein Halten mehr geben wird. Dass ich mich im Tränenmeer ertrinken sehe, ohne Rettungsring, während das Wasser steigen und steigen wird, bis ich qualvoll am eigenen Elend verrecke. Weil ich weiß, dass kein Verlass auf diejenigen ist, die für das Retten mit Geld bezahlt werden. Und sie nickt und redet vom Krisendienst, dann, wenn gar nichts mehr geht, aber es fällt mir schwer an Hilfe zu glauben, wenn es eigentlich zu spät dafür ist.

Ich wünsche mir die Scheißegal-Laune herbei. Meine Worte werden immer eindringlicher. Ich will, dass sie es ausspricht. Mit ihr gemeinsam gehe ich Schritt für Schritt dem Endzeit-Szenario entgegen, bis sie schließlich die Möglichkeit in Erwägung zieht. Jedoch anders als erwartet. "Pillen decken die Traurigkeit zu. Das ist nichts für sie." Sagt sie einfach so. Weil ich an eben dieser Traurigkeit arbeiten muss. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns." Herzkrampf. Gute Frau. Dankedankedanke.

Die Entscheidung treffen, Traurigkeit zuzulassen. Einen Schritt ins Ungewisse machen. Kontrollverlust gestatten. Das war noch nie meine Stärke. Ganz im Gegenteil.


 

Freitag, 4. April 2008

Genau auf diese Traurigkeit habe ich gewartet. Trauer der Einsamkeit, die aus zu viel Alleinsein entsteht.

Wenn keiner da ist, dessen Worte einem etwas bedeuten.
Wenn man sich an all den Schönheiten der Fremde allein erfreuen muss.
Wenn der grosse Mut nur von einem selbst honoriert werden kann.
Wenn die Gedanken düster werden, weil alles immer nur schöngeredet erscheint.

Aber was wäre zu Hause schon anders? Nichts.


 

Dienstag, 19. Februar 2008

Nachdem ich zwei Tage lang erfolglos versucht habe den Arzt zu erreichen, fahre ich auf gut Glück den weiten Weg zu ihm, um ein bisschen Druck zu machen. Er soll mir ein Schreiben für die Frau von L. unterzeichnen und zwar dringend und schnell und bitte schon gestern. Wie auch die Male zuvor, selbst als ich Termine hatte, ist er nicht anwesend, die Ausrede ist bereits bekannt. Die Sprechstundenhilfe lächelt erstmal und behauptet dann keck, dass mein Brief nicht angekommen sei. Ich frage nochmal nach, kann es nicht glauben und sie schaut sich mit einen 2-Sekunden-Blick suchend um, blättert durch einen Papierstapel und bemerkt naseweis, dass bei der Post ja ständig Briefe verloren gehen. Ich bin sauer und werde gemein, aber sie antwortet nur schnippisch, dass sie keine Überweisung zu einem anderen Allgemeinmediziner ausstellen kann.

Ich bin sicher, dass aufgrund dieser Verzögerung der nächste Termin bei der Frau aus L. ausfallen wird. Sie hatte schon gedrängelt, es muss alles schnell-schnell gehen, wegen der Wartezeit und der Kostenübernahme und bestimmt noch tausend anderen Gründen.

Seit Wochen habe ich das Gefühl, ich würde mehr Geduld aufbringen als ich eigentlich habe und warten und mich beherrschen und alle Bedürfnisse auf kleinster Flamme schmoren lassen.

Und sobald ich die Praxis verlassen habe, schnürt sich meine Kehle ganz eng zusammen und die Tränen fangen an zu fließen und ich schniefe mich den Weg zur Arbeit und würde am liebsten der ganzen Welt in den Arsch beißen.